Regen schlägt gegen die riesigen Glasscheiben, die vom Fußboden bis
zur Decke reichen. Es ist dunkel da draußen. Dunkel und kalt. Meine Augen
folgen dem Lauf der Tropfen, die vom Wind gepeitscht über das Glas laufen. Ich
ziehe an meiner Zigarette und denke an nichts.
Plötzlich steht ein Kollege neben mir. Auch er raucht und starrt in
die Finsternis hinter dem Glas.
„Der Winter…“, sagt er mit matter Stimme. „Kann einen echt fertig
machen diese ständige Dunkelheit.“
Ich nicke.
„Morgens dunkel, abends dunkel.“, fährt er fort. „Als hätte sich die
Sonne komplett in den Süden verzogen.“
Ich nicke und nehme einen langen Zug. Nur noch wenige Züge und die
Zigarette ist abgebrannt. Vielleicht mache ich mir gleich noch eine neue an.
Ich kann nicht wieder runter, nicht sofort. Beim Gedanken ans Büro wird mir
übel. Das künstliche Licht, die flimmernden Bildschirme, die Mails, diese
gottverdammten Mails und das Telefon, das alle zwei Minuten klingelt. Ich bin
fertig, mein linkes Augenlid zuckt ununterbrochen, ich fühle mich wie ein
Geist, schaue meinem Körper dabei zu, wie er in den Rechner starrt, die Finger
des Körpers über die Tastatur fliegen, er Menschen am Telefon mit ruhiger,
gelassener Stimme beschwichtigt. Dann steht er auf, steigt mit müden Schritten
die Treppe hinauf, den Flur entlang in den Pausenraum, zündet sich eine
Zigarette an und starrt aus dem Fenster, in den Regen, in die Finsternis, die
schwarze Welt außerhalb der Festung; seine Gegenwart, sein Leben, unwirklich,
so fern.
„Ich wollte schon vor ´ner Stunde Feierabend gemacht haben.“, sagt der
Kollege, mehr zu sich selbst. „Aber es spielt ja ohnehin keine Rolle. Jeder Tag
gleicht dem nächsten. Wir könnten genauso gut die Nacht hierbleiben. Morgen
sind wir sowieso wieder hier. Dann müssten wir wenigstens nicht durch dieses
Mistwetter fahren.“
Es ist so weit, der letzte Zug füllt meine Lungen, ich drücke die
Zigarette aus und hole im gleichen Zug die Schachtel aus meiner Westentasche
und halte sie dem Kollegen hin.
„Nein, danke, ich rauche sowieso zu viel. Ich sollte auch wieder
runtergehen, diese Mail muss endlich rausgehen. Gott, wie ich dieses Geschreibe
hasse. Aber es hilft ja nichts, die Arbeit erledigt sich nicht von allein. Mir
wird schlecht, wenn ich ans Büro denke. Manchmal fühle ich mich, als wäre ich
ein Geist, der in einer Maschine feststeckt. Der Geist will raus, aber die
Maschine ist wie ein Gefängnis aus Stahl, programmiert auf die ewige Widerkehr
des Gleichen. Und ich bin verdammt dazu, Sysiphos dabei zuzusehen, wie er
seinen beschissenen Felsen den Abhang hochrollt. Tag für Tag für Tag für Tag.“
Ich zünde mir die zweite Zigarette an und nicke und schließe die Augen
und nicke weiter. Der Kollege drückt seine Zigarette in den Aschenbecher und
verabschiedet sich mit den Worten: „Wie auch immer…“. Ich atme tief durch,
nehme einen langen Zug, die Augen geschlossen. Ich stelle mir vor, ich sei eine
Maschine, auf Zerstörung programmiert, alles zermalmend unter schweren
Panzerketten. Ich hinterlasse eine Spur aus Chaos und Feuer in der Finsternis.
Die Flammen werfen wilde Schatten an die zerbombten Grundpfeiler der Ruinen.
Ich öffne meine Augen.
Es regnet noch immer.
Auf dem Weg nach Hause sitzt mir in der Bahn ein Vater mit seiner
kleinen Tochter gegenüber und erklärt ihr die Welt.
„Warum gibt es böse Menschen?“, will das Kind wissen.
Ich starre aus dem Fenster ins verregnete Nichts und lausche dem
Dialog.
„Weil wir nun mal die Wahl haben.“, antwortet der Vater. „Gott hat uns
den freien Willen geschenkt.“
„Warum hat er uns nicht einfach alle gut gemacht?“
„Weil er möchte, dass wir von uns aus gut sind, nicht weil er es
will.“
Mein Fokus verschiebt sich von der Außenwelt auf die Spiegelung der
Fahrgäste in der Fensterscheibe. Die Leute starren wie ich; auf Ihre
Smartphones, in Ihre Spiegelbilder hinein, in den nassen Abgrund der Außenwelt.
Alles schweigt wie im Theater. Das Stück geht weiter:
„Dann ist Gott schuld daran, dass die Welt so blöd ist.“
„Die Welt ist nicht blöd, Susu, nur kompliziert.“
Im Spiegel sehe ich, dass der Vater sein Kind in den Arm nimmt. Er
streicht seiner Tochter durchs Haar und küsst sie auf die Stirn.
„Viele Menschen wissen nicht, was sie tun. Sie haben Angst und sind
verwirrt und wütend. Wir sind alle Kinder Gottes, er liebt uns alle, so wie wir
sind, mit all unseren Fehlern. In jedem Menschen steckt das Gute. Manche haben
es nur noch nicht gefunden.“
„Ich finde das blöd von Gott…“, murmelt Susu und verschränkt die Arme.
Ihr Blick trifft den meinen im Spiegel der Fensterscheibe. Wir schauen uns eine
Weile an.
‚Gott ist tot‘, denke ich
und lächle Susu an. Sie schaut schüchtern zu Boden. ‚Du wirst noch früh genug selbst dahinter kommen.‘
Dann, plötzlich, erwidert das Mädchen meinen Blick erneut und lächelt
zurück. Es macht mich glücklich, dieses Lächeln und ich spüre, wie eine wohlige
Wärme von meinem Herzen Besitz ergreift.
‚Eines Tages, aber nicht heute.‘,
denke ich weiter. ‚Alles ist gut.‘
Die Türen gehen auf, Menschen steigen aus, Menschen steigen ein. Unter
Ihnen ist ein Penner. Er torkelt ins Abteil, murmelt vor sich hin. Grunzend
lehnt er sich an die gegenüberliegende Tür. Sein trüber Blick schweift durch
den Waggon, bleibt kurz an jedem Fahrgast hängen. Sein Gesicht verrät
unverhohlene Missgunst, Hass, Enttäuschung, Einsamkeit, Müdigkeit, Trauer.
Seine Augen bleiben an einem jungen Südländer haften, der in sein Smartphone
starrt, als wäre es das Tor in eine andere Dimension.
"Alles Egofucker!“, brüllt er plötzlich durch den Waggon. Es klingt
wie das wütende Bellen eines misshandelten Hundes. „All´s Egoooofucker! Ihr
miesen…“
„Warum schreit der Mann so?“, flüstert das Kind, sichtlich
verängstigt, sich tiefer in die Umarmung des Vaters schmiegend.
„Der Mann ist betrunken, Susu. Tu so, als wär´ er nicht da.“
„EGOOOOOOFUCKERR!!!!“, schreit der Penner. Wir alle ignorieren sein
Gebrüll. Starren, aus den Fenstern, durch Displays in fremde Dimensionen,
schließen die Augen.
„Kuck´ eusch nur ma´ an hier, eine Paraaaade der Eitlkeitn… PACK!
GESINDEL HEUCHLER IHR!! Meints ihr wärt was Bessres mit eurn Scheißspielsachen
den Klamottn scheiße nochma´…“ Ein Rülpsen, ein Kratzen am Kopf und weiter
geht’s: „Nuttn seid ihr alle! NUTTN!!!“
„Was ist ein Nuttn?“, flüstert das Kind, der Vater schüttelt den Kopf
und macht: „Psst!“. Als lausche er einer Predigt, von der er kein Wort
verpassen will.
„Lutsch Schwänze den ganzn Tag… und für was?! FÜR WAS?! Is doch nur
Papier die Scheiße… Nur Papier und dafür verkauf´ ihr eure Scheißseeln, kauf
euch diese Scheiße, damit ihr angebn könnt, zeign könnt, dass ihr wer seid hä?
Scheiß Egohuren, wenn der Chef ruf´ kommt ihr angelaufn wie ´n dreckiger Köter,
leckt ihm den Hintern und sagt ‚Bitte doch, gerne doch‘ ihr dummn Fucker ey,
widerlich! Ihr widrt mich an!“
Das Programm geht weiter. Kratzen, Rülpsen, Murmeln. Dann lautes
Lachen. Es ist ein verzerrtes Lachen. Ich frage mich, warum es mir so fremd
vorkommt. Ihm scheint jegliche Scham zu fehlen. Ein befreites Lachen.
„Kannsu mal bitte, machsu mal bitte, FICK DICH MAL BITTE!!!“
Jetzt reicht es dem Vater. Er wendet in strengem Pastorenton das Wort
an den Penner: „Jetzt hören Sie aber mal, es reicht!“
„JAAAAAA DUUUU!“, schreit der Penner und zeigt mit seinem schmutzigen,
vergilbten Finger auf den Mann und seine Tochter in seinen Armen.
„Hübsches Ding hasse da. Hübsches Ding…“ Der Penner wird plötzlich
ruhig. Er lächelt, seine Augen füllen sich mit Tränen. Die Türen gehen auf,
Leute steigen aus, Leute steigen ein. Der Penner murmelt etwas vor sich hin und
wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann springt er ruckartig auf und
flüchtet aus der Bahn in den Regen.
„Du hast gesagt, man soll nicht mit dem Mann reden.“, sagt das Kind.
„Er hat mir leid getan.“, antwortet der Vater.
„Ach so.“ antwortet das Kind, löst sich aus der Umarmung und starrt
aus dem Fenster.
Es kehrt wieder Schweigen ein ins Abteil.
Für den Rest der Fahrt spricht niemand mehr ein Wort.
„Ich kann nicht schlafen.“, sage ich und stehe auf. Im Halbdunkel kann
ich ihr Gesicht nicht erkennen, aber dennoch weiß ich, dass sie mich besorgt
anschaut. Ich beuge mich zu ihr hinab und küsse sie auf die Stirn. „Mach´ dir
keine Sorgen, Baby, alles ist gut. Schlaf weiter, ich komme gleich wieder.“
Sie nickt und murmelt etwas Unverständliches, dann wendet sie sich ab
und schmiegt sich seufzend in die Laken. Ich verlasse das Schlafzimmer und
schließe leise die Tür.
In der Küche nehme ich mir ein Bier aus dem Kühlschrank, öffne das
Fenster und zünde mir eine Zigarette an. Es regnet noch immer in Strömen.
Ich denke an das Meer, den ewigen Horizont. Ich stelle mir vor, ich
sei Kapitän eines einsamen kleinen Schiffes mitten auf dem schwarzen Ozean,
umgeben von Wasser, kein Land in Sicht.
‚Das Problem sind die Erwartungen.‘, denke ich.
Und: ‚Wir sind zu viele, einfach zu viele auf diesem kleinen
Planeten.‘
Und: ‚Es gibt keine Entscheidungsmöglichkeit. Alle Wege führen ans
gleiche Ziel. Kein Gut oder Böse. Kein Gott, keine Freiheit. Determination.
Eine Straße, unzählige Pilger, ein Abgrund und alle stürzen wir hinein, früher
oder später.‘
Ich denke an noch vieles andere. Mickey Maus, Flüchtlingsunterkünfte,
Sex im Weltraum usw. Dann ist das Bier leer, die Zigarette erloschen.
Ich gehe ins Bett und schließe die Augen.
„Du stinkst nach Bier.“, sagt sie.
„Ja.“, sage ich. „Tut mir Leid.“
„Alles ok?“, fragt sie.
„Ja, alles gut.“, sage ich. „Es ist nur…“
„Hm?“
„Ach, nichts weiter. Die Welt.“
„Ich weiß.“ Sie schmiegt sich an mich, ein Kuss, sie streicht mir
durchs Haar. „Ich weiß…“
„Ich sollte mir eine neue Arbeit suchen.“, sage ich. „Irgendetwas
ändern.“
„Mach das.“, sagt sie schlaftrunken. „Irgendwas Kreatives.“
„Hm.“
„Was dir Spaß macht.“
„Ja. Irgendwas was Spaß macht.“
Ich denke an mein Schiff im schwarzen Ozean. Die Einsamkeit auf dem
Meer, die Spiegelung des Mondes in den sanften Wogen des Wassers. Der Regen
wird schwächer, der Himmel nimmt Farbe an. Doch in meiner Kabine bin ich nicht
allein. Gemeinsam treiben wir dem Horizont entgegen, Arm in Arm, alles Bekannte
zurücklassend.
Plötzlich endet der Sturm und ein erster Sonnenstrahl dringt am
Weltenrand hervor.
„Ich sollte mir ein Boot kaufen…“, murmele ich im Halbschlaf. „Für uns
beide. Irgendwann…“
„Hm…“
Ich schlafe ein, meine Träume sind leer.